Nachruf der Direktoren des Albert-Einstein-Instituts
Jürgen Ehlers, einer der angesehensten und einflussreichsten deutschen Wissenschaftler seiner Generation, ist sehr plötzlich und unerwartet am 20. Mai 2008 verstorben. Wir verlieren mit ihm nicht nur einen Spezialisten auf dem Gebiet der Allgemeinen Relativitätstheorie, sondern auch einen Humanisten und Generalisten mit leidenschaftlichem Interesse an den Grundlagen der Naturerscheinungen. Aufgrund dieser besonderen Fähigkeiten spielte Ehlers eine führende Rolle bei der Wiederbelebung der Forschung an der Relativitätstheorie im modernen Deutschland: von den ersten Anfängen in den 1950iger Jahren bis zum Aufblühen des Faches im letzten Jahrzehnt. Das Institut, das er 1995 in Potsdam gründete, das Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (besser bekannt unter seinem Ehrennamen „Albert-Einstein-Institut“, AEI), entwickelte sich zum größten Institut seiner Art weltweit. In ihm wird die Erinnerung an sein wissenschaftliches Leben einen würdigen Ort haben.
Ehlers, Jahrgang 1929, studierte in den 1950iger Jahren in Hamburg Mathematik und Physik. Die Gelegenheit, bei Pascual Jordan, einem der Pioniere der Quantenphysik, die Relativitätstheorie erforschen zu können, gab letztlich den Ausschlag für die Physik. Zu jener Zeit regte sich unter den theoretischen Physikern nach Jahrzehnten der Vernachlässigung das Interesse an Allgemeiner Relativitätstheorie. Jordan gehörte zu einer Handvoll führender Persönlichkeiten weltweit, die spürten, dass die Zeit reif dafür war, ein tieferes Verständnis der Allgemeinen Relativitätstheorie zu gewinnen, um sie schlussendlich zu einer vollständigen Quantentheorie der Gravitation zu erweitern. Wichtige Forschungsziele waren das Verständnis von Gravitationswellen und von Phänomenen, die wir heute als „Schwarze Löcher“ bezeichnen. Jordan und seine Schüler, unter ihnen Jürgen Ehlers, gehörten zu den Pionieren dieser Wiederbelebung.
Nach Gastprofessuren an mehreren Universitäten in Deutschland und den USA, die 1967 in einer Professur an der Universität von Texas in Austin gipfelten, wechselte Ehlers 1971 als Wissenschaftliches Mitglied des Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik nach München. Institutsdirektor Ludwig Biermann lud Ehlers ein, sich dem astrophysikalischen Teil des Instituts anzuschließen, denn hier begann man gerade mit der Forschung an Gravitationswellen, was letztendlich zum Bau des deutschen Detektors GEO600 führte. Als der astrophysikalische Teil des Max-Planck-Instituts 1979 in ein neues Gebäude nach Garching außerhalb Münchens zog, zogen Ehlers und seine Arbeitsgruppe ebenfalls mit um, zusammen mit den an Gravitationswellen forschenden Experimentalisten. Ehlers’ klares Bekenntnis zur Astrophysik reflektierte seine tiefe Überzeugung, dass die wichtigsten Aspekte der Allgemeinen Relativitätstheorie diejenigen sind, die mittels astronomischer Beobachtungen überprüft werden können.
Gleichwohl blieb Ehlers ein der Mathematik verpflichteter Physiker, der stets darauf bestand, die großen physikalischen und astrophysikalischen Fragen der Relativitätstheorie mit soviel mathematischer Strenge und Sorgfalt wie möglich zu beantworten. Dabei hatten stets diejenigen Fragen, die das Universum selbst stellt, für ihn die größte Bedeutung. Die Entdeckung des ersten Pulsars in einem binären System durch Russell Hulse und Joseph Taylor im Jahr 1974 stellte einen Wendepunkt für die Relativitätstheorie dar. Es war sofort offensichtlich, dass das System die erste Gelegenheit bieten würde, die Theorie der Gravitationswellen durch Beobachtungen einwandfrei zu überprüfen: die beiden Sterne, die einander auf spiralförmigen Umlaufbahnen umkreisen und sich dabei allmählich näher kommen, verlieren Energie in Form von Gravitationswellen. Ehlers begriff schnell, wie wichtig das Resultat dieser Beobachtungen sein würde und wies auf den ganz und gar nicht befriedigenden Entwicklungsstand der Theorie der Gravitationswellen hin. Die präzise Überprüfung der Relativitätstheorie durch astronomische Beobachtungen konnte nicht gelingen, bevor nicht die Relativisten die Theorie besser verstanden hatten.Während der nächsten zehn Jahre brachte Ehlers mit bemerkenswertem Erfolg sowohl seine eigenen Mitarbeiter als auch Wissenschaftler auf der ganzen Welt dazu, genau dies zu tun. Für die 1993 mit dem Nobelpreis prämierten Arbeiten von Hulse und Taylor, den seit den 1990iger Jahren weltweit erfolgten Bau riesiger Gravitationswellendetektoren und den Einsatz moderner Supercomputer für die Vorhersage der Gravitationswellenstrahlung von Neutronensternen und Schwarzen Löchern existieren heute gesicherte theoretische Grundlagen. Dies ist auch ein Verdienst von Jürgen Ehlers, der stets darauf bestand, dass die Modelle der Allgemeinen Relativitätstheorie trotz ihrer Komplexität mathematisch streng zu behandeln sind.
Immer auf der Suche nach großen Herausforderungen, wandte sich Ehlers in den späten 1980iger Jahren der Forschung an einer weiteren Vorhersage Einsteins zu: der Krümmung des Lichts unter dem Einfluss der Schwerkraft. Erneut wurde er angeregt durch eine gerade erfolgte astronomische Entdeckung: die der Gravitationslinsen, bei denen Teleskope Mehrfachbilder desselben Objekts sehen. Sie entstehen, wenn das Licht auf dem Weg zur Erde das Gravitationsfeld einer dazwischen liegenden Galaxie auf unterschiedlichen Bahnen durchquert. Wieder gab es Lücken in der Theorie und Ehlers spornte junge Wissenschaftler in Garching dazu an, sie zu schließen. Heutzutage ist die Beobachtung von Gravitationslinsen ein zentrales Instrument der Astronomie, u. a. um zu beweisen, dass das Universum viel mehr Dunkle Materie enthält als Sterne und sichtbare Galaxien. Die Beschaffenheit dieser Dunklen Materie ist bislang nicht bekannt, sicher ist allerdings, dass sie sich nicht aus Protonen, Elektronen und Neutronen – den Bausteinen unserer Welt – zusammensetzt. Ehlers’ junge Mitarbeiter haben später dieses Gebiet der Astronomie mit maßgeblichen Beiträgen voran gebracht.
Ehlers’ Forschung an der Schnittstelle von Mathematik und Physik hatte auch bedeutende Auswirkungen auf die Entwicklung der Mathematik selbst. Er initiierte mehrere neue Forschungsthemen in Analysis und Differentialgeometrie. Von besonderer Bedeutung ist seine Theorie der Referenzsysteme („frame theory“), die einen entscheidenden mathematischen Zusammenhang zwischen den Konzepten der klassischen Physik und der geometrischen Sprache der Allgemeinen Relativitätstheorie herstellt. Die frame theory erlaubt den quantitativen Vergleich der unterschiedlichen mathematischen Modelle, mit denen Newtons und Einsteins Gravitationstheorien dasselbe physikalische System beschreiben. Dies ist eine zentrale Frage, denn viele experimentelle Überprüfungen der Allgemeinen Relativitätstheorie stützen sich auf Messungen geringfügiger Änderungen von Bewegungen im Sonnensystem im Vergleich zu den auf Grundlage der Newtonschen Gravitationstheorie vorhergesagten Daten. Ehlers hatte die seltene Gabe, physikalische Fragen mathematisch präzise formulieren zu können. Die mathematische Forschung an Einsteins Gleichungen wird noch auf Jahre hinaus von seinem Einfluss geprägt sein.
Im Jahr 1990 hatte Ehlers, wie er später sagte, „die eine gute politische Idee seines Lebens“: Er schlug der Max-Planck-Gesellschaft die Gründung eines Instituts mit dem Forschungsschwerpunkt Gravitation vor. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands sollte das Netzwerk der Max-Planck-Institute auf die neuen Bundesländer ausgedehnt werden, und Ehlers ahnte, dass ein Institut in Potsdam nahe Berlin nicht nur wissenschaftlich wichtig wäre. Vielmehr würde Deutschland damit auch der von den Nationalsozialisten praktizierten Verunglimpfung der Person Einsteins endlich ein sichtbares Zeichen entgegensetzen. Die Nazis hatten Einstein aus Berlin und Deutschland vertrieben und die Forschung an der Relativitätstheorie vollkommen zum Erliegen gebracht. Ehlers’ hohes wissenschaftliches Ansehen öffnete ihm die Türen zur Politik, und das Ergebnis war die Gründung des Albert- Einstein-Instituts in Potsdam im Jahr 1995.
Jürgen Ehlers hatte eine Vision vom Forschungsspektrum des AEI, die sein breites Wissen und sein Interesse an der Relativitätstheorie im Ganzen widerspiegelte. Dies betraf auch Themen, die seiner eigenen Forschung fern lagen. Er sah die gesamte Relativitätstheorie
unter einem Dach vereint: Neben Astrophysikalischer Forschung an Schwarzen Löchern und Gravitationswellen auch die Suche nach streng mathematischen Antworten auf Fragestellungen, die sich aus astronomischen Beobachtungen ergeben. Darüber hinaus Forschung mit dem Ziel einer Quantentheorie der Gravitation: eben jenes Ziel, welches zur Wiederbelebung der Relativitätstheorie in den 1950iger Jahren geführt hatte und das bis heute nicht erreicht ist. Heutzutage finden sich unter dem Dach des AEI zwei Institutsteile: ein theoretisches Teilinstitut in Potsdam-Golm und ein experimentelles in Hannover, das den Gravitationswellendetektor GEO600 betreibt und eine Schlüsselrolle in der Entwicklung zukünftiger erdgebundener und satellitengestützter Detektoren spielt. Das Institut hat etwa 200 Mitarbeiter und jährlich 200 wissenschaftliche Gäste, es beherbergt einige der weltweit schnellsten Supercomputer und betreibt den Gravitationswellendetektor GEO600. Am AEI werden zahlreiche Konferenzen und Workshops veranstaltet, eine eigene wissenschaftliche Zeitschrift wird publiziert und weitere Zeitschriften mit herausgegeben. So erfüllt das Albert- Einstein-Institut in großartiger Weise Ehlers’ ursprüngliche Vision, dass die Relativitätstheorie sich dann am besten weiter entwickeln könne, wenn alle ihre Teilgebiete miteinander verbunden sind und in regem Austausch stehen.
In den letzten Jahren widmete Ehlers seinem lebenslangen Interesse an Wissenschaftsgeschichte und der Bedeutung und Wichtigkeit von Wissenschaft für die Gesellschaft mehr Zeit. Dafür engagierte er sich in öffentlichen Debatten und mit Publikationen. Er war zutiefst davon überzeugt, dass rationales Denken und die wissenschaftliche Methode wichtige Bestandteile einer zivilisierten Gesellschaft sind. Dabei warb er dafür, die wissenschaftliche Methode als menschliches Unterfangen zu verstehen, als eine immer weiter gehende Suche nach einer tieferen Realität und nicht als bloße Produktion in Stein gemeißelter Gesetze.
Jürgen Ehlers wurden viele Ehrungen zuteil: 2002 erhielt er die Max-Planck-Medaille der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, im „Einsteinjahr“ 2005 die Volta-Medaille in Gold der Universität Pavia, und kürzlich (2007) die Gedächtnismedaille der Karls-Universität in Prag. Er war Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, der Deutschen Akademie für Naturforscher Leopoldina und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Im Jahr 1995 wählten ihn seine wissenschaftlichen Kollegen für drei Jahre zum Präsidenten der Internationalen Gesellschaft für Allgemeine Relativitätstheorie und Gravitation. Aber trotz dieser Ehrungen und seines bedeutenden Einflusses wird Ehlers denen, die ihn kannten, stets als ein bescheidener Mensch und Gentleman in Erinnerung bleiben. Seine Führungsrolle als Lehrer und Mentor beruhte auf seinen tiefen wissenschaftlichen Einsichten. Er war vorbildlich auch in seinem Respekt für seine Kollegen und Mitarbeiter.
Jürgen Ehlers wird von seinen wissenschaftlichen Kollegen schmerzlich vermisst werden. Sie trauern mit der Familie, die er zurücklässt: Seine Frau Anita, seine Kinder Martin, Kathrin, David und Max, sowie seine fünf Enkelkinder.
Die Direktoren des Albert-Einstein-Instituts